2.10.2017
Lieber A.
Landleben I
Hier tropft es allenthalben, glitzernde Wasserperlen hängen an Zweigen, Ästen, Blättern.
Die Blätter beginnen zu fallen. Kein Wunder heißt Herbst auf Englisch „Fall”. Gar nicht so dumm, die Engländer.
Auf unserem Nachbargrundstück baggert es gewaltig, weil die Nachbarn, die mit dem überbauten Wohnwagen und den kläffenden Hunden, genau, die vor einem halben Jahr weggezogen sind (endlich), ihr Grundstück per Anwalt an eine Baufirma überschrieben haben, zum Verkaufen natürlich, und die nun will zwei Einfamilienhäuser draufstellen, die Anzeige gibt es schon in IMMO24 … Puh. Nun müssen die Verkäufer das Grundstück räumen, diesen ganzen Müll kann man niemand zu besichtigen zumuten.
Ich weiß nicht ob ich dir schon erzählte, dass wir seit drei Monaten nun schon das „alte” Auto von Gilas Bruder haben. Also, nun beweglich. Alles eigen: Auto, Haus, Eigentumswohnung, Computer, Akkordeon, Fahrrad. Meine Güte, was für ein Leben, nur die Einkünfte, an denen hapert es gewaltig. Dafür haben wir, wie gesagt, viele Kartoffeln geerntet, viel Porree, Salat, leider nur einen einzigen Apfel, weil die Blüten letzten April bei dem gewaltigen Nach-Frost alle das Zeitliche gesegnet haben.
Nee, ich kann wirklich nicht klagen. Bin jetzt die meiste Zeit hier draußen und wenn ich in Berlin bin, spüre ich die Distanz, die immer größer wird,
(„wie, das soll meine Stadt sein, meine Wohngegend, meine Markthalle, meine Straße, diese ganzen jungen Leute, die die Infrastruktur verstopfen, englisch reden, schwedisch, italienisch, französisch, die sich einen kalten Kehricht um die Geschichte der letzten vierzig Jahre scheren, wenn sie ihren Latte macchiato bekommen und ihre Bio-Äpfel? Das soll das Fazit sein von vierzig Jahre Heimat? Oh, Oh, Oh!“)
Autsch.
Ja, ich weiß, man redet sich ja immer alles so zurecht, wie man es gerade braucht.
Stadt-Land-Connection
Es gibt hier in Klein-Glien ein paar junge Leute aus Berlin, genauer gesagt, ein Pärchen, die haben einen alten Gutshof gepachtet, riesig, der bereits seit einigen Jahren von einem Verein zum Hotel und Restaurant ausgebaut worden war, aber überhaupt nicht lief.
Das Pärchen mit Kind, ich schätze die Eltern, sie Engländerin, er Berliner, sind so um die 35, hat schon in Berlin immer bei irgendeinem social-media-festival mitgemischt, die beiden sind äußerst sympathisch, offen, neugierig, unvoreingenommen und abenteuerlustig. Jedenfalls haben sie die Idee des share-office, digitale Arbeitsplätze auf Zeit also (es gibt da auch so ein Fabrikgebäude mit mehreren Etagen an der Ecke Prinzessinenstraße(Moritzplatz, neben den Prinzessinengärten), auf das Land auszudehnen. Es gibt nun in dem Hotel Gut Klein-Glien Einzel- und Mehrbettenzimmer, und viele Einzelarbeitsplätze, wo du dein Laptop anschließen und ins Internet gehen kannst, wo du gleich- oder so-ähnlichgesinnte treffen kannst bei den gemeinsamen Mahlzeiten, wo du auch draußen auf dem Hof diverse Arbeitsplätze einnehmen kannst, wo du spazieren gehen kannst, es ists hervorragend und sie sind seit April zugange und schon gut gebucht. Am Samstag und Sonntag gibt es im Gaststättenraum öffentlichen Zugang mit Cafè und Kuchen, Drinks. Jetzt am Sonnabend war ich mit Gila zum Apfelfest da. Viel sehr angenehme Improvisation, Leute wie du und ich, Kreuzberger, Berliner, Junge Digitale Szene, Trödelklamotten, Leute, die hier in der Gegend auf dem Land leben, also eher ältere Semester, alles durchmischte sich und eine Freundin von denen hatte einen Apfelkuchenwettbewerb ausgeschrieben, wo es dann neun verschiedene Apfelkuchen gab und man hat sie immer in Gruppen probiert, es wurde moderiert, über die Apfelkuchen geredet, du hattest sofort Kontakt zu Leuten, viele Kinder, und gleichwohl keine PrenzlauerBergAtmo oder neuerdings KreuzbergAtmo (ja, zwischen Lausitzer Platz, Mariannenplatz, Waldemarstr und Wrangelstr. häufen sich die Kinderwagen von Woche zu Woche).
Landleben II
Vor einer Woche war ich hier Zeuge der Landwirtschaflichen Produktions Industrie Departement Mais. Gewaltige Maschinen auf den fast unüberblickbaren mit Mais angebauten Flächen, die den Mais in einer Breite von ca. 15 metern auf einen Zug abschneiden, häckseln und über lange dicke Rohre oben herausblasen, direkt in die Sattelschlepper, die gleich in Zweierreihen nebenher fahren, damit, wenn der eine voll ist, gleich der nächste aufschließen kann. Jeden Tag, drei Tage lang, fuhren hier dies Sattelschlepper oder Riesentraktoren mit Riesenanhängern durchs Dorf. Ich hab ein paar Fotos gemacht. Irrsinn. Und das aberwitzigste war: da stand immer ein Geländewagen mit rotbewestetem Menschen, wo ich mich nach einer Stunde aus dreihundert Meter Entfernung das Ganze beobachtend gefragt habe, was der eigentlich macht, bis er schließlich seine Flinte anlegte und irgendein Reh erschoss, das aus dem Mais heraus flüchtete. Abends im Dorf wurde erzählt, dass dieser Jagdpächter das immer macht und er „gestern und heute schon fünf oder sechs Wildschweine auf diese Weise erlegte”. Nun ja, was sagt man da als alter Kreuzberger…?
Landleben III
Erschütternd war etwas, dass hier in Schlamau, als Ortsteil von Wiesenburg gab es eine genaue Auflistung der Stimmen, bei den Wahlen es exakt 128 Stimmberechtigte gab, von denen 80 ihre Stimme abgaben, 78 davon gültig, und davon waren
4 für die Grünen,
6 für die NPD,
14 für die AfD,
12 für die Linke,
0 für die FDP,
23 für CDU,
14 SPD,
1 Freie Wähler,
2 PIRATEN,
2 Tierschutzpartei.
Also von 78 gehen 20 an Braun, 20 an relativ links (Grün, Linke, Piraten, Tierschutz) und 38 für die klägliche Mitte.
Ich glaube übrigens nach dem Beobachten diverser Talkrunden etc. auch, dass Jamaica einen gewissen Ausschluss der Ostbevölkerung bedeutet und für die Leute in den zunächst ausgebeuteten und dann vernachlässigten Gebieten es keine rechte Vertretung gibt. Das ist auch die Stimmung hier in der Kneipe. Was erwarten die von Merkel Lindner und Özdamar oder Göhring-Eckhart? Warum sie allerdings nicht die Linke wählen, das konnte mir keiner sagen, ich vermute aber, es liegt immer noch an der Angst vor der Vergangenheit.
Schwierig. Die Nachbarschaft ist trotzdem sehr gut.
A., ich hoffe, dir geht es gut. Ich komme nächstes Wochenende nach Berlin, bzw. Wahrscheinlich erst Sonntag Nachmittag und bin dann drei oder vier Tage da. Vielleicht können wir uns mal auf ein After-Work-Getränk treffen oder besuchen.
Bis die Tage
Reiner